«Aphantasia» – ein neues Werk von Nik Bärtsch

Im 5. Abo-Konzert führen wir Nik Bärtschs neues Werk «Aphantasia» zusammen mit seiner Band Nik Bärtsch’s MOBILE in Kooperation mit dem Offbeat Jazzfestival Basel und der Kaserne Basel als Weltpremiere auf.

 

Wir freuen uns sehr Über die Zusammenarbeit und auf das neue Werk.
Um «Aphantasia» etwas kennen zu lernen veröffentlichen wir hier Nik Bärtschs Werkkommentar:

 

1 Das innere Auge hört nichts

Während dem Schreiben des Stücks, stellte sich wie immer die Frage, wie wir eigentlich Musik hören und wie Musik kommuniziert. 
Hören wir Information, Energie, Emotion? Folgen wir Regeln, Drifts und Dramaturgien? 

Diese Fragen beschäftigten den musikalischen Sprach-Philosophen Ludwig Wittgenstein ständig. Wie kommt musikalische Bedeutung und Kohärenz zu Stande? Wie «verstehen» oder «fühlen» wir eine musikalische Struktur, Form und Dramaturgie? Entsteht ein Wechselbad der Gefühle, ein innerer Film, ein Wittgensteinsches Regel-System?
Hören wir strukturell, metaphorisch, programmatisch, universell vorbestimmt oder kulturell und individuell geprägt emotional und ästhetisch? Oder gar mit einer wilden Mischung aus all diesen Aspekten?

Beschäftigt mit diesen grundsätzlichen Überlegungen bin ich während der Zeit des Komponierens auf einen Artikel über ein Phänomen gestossen, welches«Afantasie» genannt wird: es bezeichnet das Fehlen des bildlichen Vorstellungsvermögens im Hirn. 

Mir kam dabei die musikphilosophische Sehnsucht aus dem 19. Jahrhundert in den Sinn, die beschwört, dass absolute Musik im Gegensatz zu Programm-Musik die reinste Form von Musik sei - tönende Form. Eine Debatte, die heute noch ihre Fortsetzung findet beim
Vergleich von Film-Musik und Konzert-Musik. Ein Mensch mit Afantasie kann eigentlich kein Programm hören bzw. bildlich mit Musik verknüpfen. Er hört offenbar reine Struktur, was immer das auch sein soll. Er wäre der ideale Hörende für absolute Musik. Vielleicht im ähnlichen Sinne wie das Strawinsky meinte, als er sagte, dass Musik nichts ausdrückt, weder ein Gefühl, noch eine Haltung des Geistes, einen psychologischen Zustand oder ein Naturphänomen etc. 
Musik sei einfach Musik.

Stellen Sie sich vor, Sie könnten die Musik nicht sehen - wie würden Sie hören?

Von diesem Phänomen inspiriert begann ich, mir die 5 Teile des Stücks als Dramaturgie der inneren Wahrnehmung vorzustellen:

I Mind‘s Eye
Das innere Auge sieht noch nichts, hört nur entstehende Struktur. Es tastet blind die Musik ab und schafft Bezüge.

II Metaphoric Mind 
Der Geist beginnt Bilder zu evozieren, sie aus der Musik zu extrahieren, er versinnlicht die Struktur.

III Mind‘s Ear
Die mental ertasteten Strukturen aus dem ersten Satz beginnen, sich durch Erinnern, Wiederholen, Variieren und Verändern zu verfestigen und Dramaturgien und Perspektiven zu bilden. Wir hören das Jetzt in Bezug zu vorher. Die Zeit wird Raum.

IV Dancing Mind
In einem Groove-Zyklus von 5/4 gegen 11/4 tanzt der Geist. Er schweift ab vom strukturellen Hören. Groove ist Kollektiv-Besitz, sagte einst der Komponist Heiner Goebbels. Groove gehört uns allen und verbindet uns alle, da er universell anspricht.

V Mind‘s Body
Alle vier vorherigen Sätze münden in einen musikalischen Körper. Struktur verstehen passiert letztlich sinnlich, wie in der Kampfkunst. Körper und Geist sind eins, die Trennung war von Anfang an Illusion.

 

2 Ernste Unterhaltung

Eine ähnliche Unterscheidungs-Debatte wie diejenige zu absoluter und Programm-Musik entstand im 20. Jahrhundert zu sogenannter ernster Musik (E) und Unterhaltungsmusik (U). Der Unterschied war auch ökonomisch relevant, da Urheberrechte und Unterstützungs-Leistungen der «E-Musik» lange höher gewichtet wurden - und immer noch werden - als diejenigen der «U-Musik». Mir war der Grund dieser Gewichtung und Trennung immer schleierhaft, da ich ansprechende Musik immer als seriös und unterhaltsam gleichzeitig empfunden habe. Béla Bartóks «Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta» ist unterhaltsam, «Construçao» von Chico Barque ist todernste Musik. 
So ist unsere Musik von MOBILE ideologiefrei und inspiriert von verschiedenen Genres und musikalischen Verfahren. «Ritual Groove Music» bezeichnet daher mehr eine musikalische Haltung als eine Ästhetik oder Abgrenzung.

 

3 Aus einer Quelle

Eine weitere Unterscheidung, die im 19. begann und im 20. Jahrhundert ihre Fortsetzung fand, betrifft die grundlegenden musikalischen Fähigkeiten zu komponieren, zu improvisieren und zu interpretieren. Die Trennung mag sinnvoll erscheinen für eine fokussierte Spezialisierung der jeweiligen Fähigkeiten, doch sollten wir nicht vergessen, dass sich diese alle aus derselben Quelle nähren. Das Stegreif-Spiel und eine kunstvolle Kadenz waren noch zu Zeiten Beethovens normal für den komponierenden und interpretierenden Menschen. Darauf zurückgreifend kombiniert unser Stück daher komponierte Elemente mit frei interpretierbaren Rollen und Solos, die vor allem von meinen MOBILE-Kollegen Nicolas Stocker am Schlagzeug und Sha an der Bassklarinette und am Altosax und von mir ausgefüllt werden. Das Stück lebt von allen drei Fähigkeiten und den damit beschäftigten Musiker*innen. Es ist nie gleich. 

 

4 Aphantasia - Der Geist ist leer

Diese Überlegungen sind Lebenszeichen des Stücks, eines Wesens, das während dem Entstehen genauso wie während der Proben und der Aufführung mit uns allen ständig kommuniziert. Es wünscht sich ein wundersames Entstehen aus dem
Nichts des leeren, blinden Geistes und will sich Gehör verschaffen wie jedes Musikstück. 

Eine Person mit Afantasie sagte in einem Artikel, auf den ich gestossen bin: «Ich muss keine Zen Mediation machen - mein Geist ist schon leer.» 
Was für eine musikalische Aussage. 

NIK BÄRTSCH

Foto: Bassi61 / Creative Commons

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